Die Geschichte meines Sohnes Markus habe ich kurz nach seinem Tod 1992 aufgeschrieben. Publiziert wurde sie im November 1998 in der Zeitschrift "Umschau" des Bundesverbandes Williams-Beuren-Syndrom Deutschland. Kann auch als PDF (1MB) heruntergeladen werden.

 

Inhalt:

Einleitung
Verschiedene Episoden
Leben mit Markus
Was war mit Markus los?
Ein Jahr danach
Neuere Erkenntnisse
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Williams-Beuren-Syndrom

 

Einleitung

Ein geistig behindertes Kind?! Eine schreckliche Vision jeder schwangeren Frau. Auch mir ging es so. Deshalb war es für mich im Alter von 38 Jahren selbstverständlich, einen Fruchtwassertest zu machen. Doch das Syndrom, das Markus hatte, konnte man nicht feststellen. Und heute bin ich froh darüber. Was hätte ich nicht alles verpasst. So ein Test würde ich nie wieder machen.

In der Schweiz werden ja alle behinderten Kinder nach wie vor versteckt und den normalen Umgang mit ihnen nie gelernt. Es könnte die anderen Kinder stören und vielleicht ihre Entwicklung hemmen. Doch das Gegenteil wäre der Fall. Sie würden den Umgang mit andersartigen Menschen kennenlernen, das Andersartige akzeptieren und nicht verschreien. Diese Erfahrung jedenfalls habe ich gemacht. Ich nahm Markus überallhin mit und sagte jedem, dass er geistig behindert war. Im Dorf kannte man ihn.

Dann der Tod mit fünf Jahren. Lauf hinausschreien möchte ich, was mir alles genommen worden ist. Ich habe mich ganz auf Markus eingestellt. Ich hatte solche Pläne, wie ich ihn integrieren könnte, wie ich das Verständnis für geistig Behinderte fördern könnte. Eine normale Akzeptanz herbeiführen könnte. Und nun hat man es mir genommen, meinen Lebensinhalt, meine Ziele, meine Hoffnungen. Mein Leben ist nicht mehr aussergewöhnlich, die Liebe, die Markus uns geschenkt hat, ist weg. Er kommt nicht mehr zu mir und umarmt mich, es ist nur noch die grosse Leere da.

Doch weiterhin ist es mir ein Anliegen, das Verständnis für Behinderte zu fördern. Den normalen Umgang mit ihnen zu lernen, sie als selbstverständlich hinnehmen, die Aufforderung an alle sie mehr zu integrieren, sie auch zu zeigen und sie nicht in eine Getto zu sperren. Ich habe mich oft gefragt, weshalb es zum Beispiel nie eine Familienserie am Fernsehen gibt, in der ein geistig behindertes Kind vorkommt. Und zwar nicht als Thema, sondern einfach als „normales” Familienmitglied. Es müsste ja nicht ein schwerstbehindertes sein, sondern ähnlich wie Markus war. Ein Kind, dem man äusserlich nicht viel anmerkt, das aber ganz anders denkt und fühlt, dem man mit anderem Verständnis entgegentreten muss.

In den folgenden Episoden versuche ich das Leben mit Markus aufzuzeigen, wie er anders war und doch ein Kind, wie viele andere auch. Die Episoden beziehen sich auf Markus wie er zuletzt war, also als fünfjähriges Kind. Darin liegt wahrscheinlich der Hauptunterschied. Die Entwicklung war dermassen verzögert, dass die Episoden für viele Eltern von kleineren Kindern als „normal” angesehen werden. Und doch Markus war nicht wie die anderen Kinder. Um jeden Fortschritt musste gerungen werden, was bei anderen Kindern einfach so kommt, musste ihm angelehrt werden.

 

Verschiedene Episoden

 

 

 

Snee! - - Schueh aglegge?

Spuren im Schnee: Was war so
interessant am Muster der
Schuhabdrücke?

 

 

 

Kaum fallen die ersten Schneeflocken, steigt Markus schnell auf das Sofa und schaut fasziniert den tanzenden Schneeflocken nach. Ebenso schnell kommt er wieder vom Sofa runter, holt sich seine Stiefel und stellt sie vor mich hin: "Schueh aglegge!" Markus läßt sich nicht abwimmeln, also ziehe ich ihm den Skianzug, die Mütze, seine Stiefel und Handschuhe an und lasse ihn in die weiße Pracht hinaus. Er trampelt auf dem Vorplatz herum, steht etwas zurück, bückt sich und studiert intensiv seine Schuhabdrücke. Als ich nach einer Weile wieder aus dem Fenster schaue, ist der ganze Vorplatz von seinen Abdrücken bedeckt und obwohl es langsam dunkler wird, kann ich Markus nicht dazu bewegen, wieder an die Wärme zu kommen. Na ja, lasse ich ihm die Freude. Papi wird sowieso bald kommen und dann kann er sich voller Stolz auf Papis Schoß hinter das Steuerrad setzen und so die paar Meter in die Garage hineinsteuern. Mit einem riesengrossen Strahlen schaut mich Markus ganz verschmitzt aus der Windschutzscheibe an. Und auf Papi hat er sich sowieso schon den ganzen Tag gefreut, da ist auch das Hineinkommen kein Problem mehr.

Pflotsche und Götsche!

Der geliebte Brunnen:
Markus hatte kaum Platz
zwischen Gewürz und Brunnen,
doch er zwängte sich hindurch.

 

 

Eines Morgens komme ich die Treppe hinunter und finde die hintere Tür sperrangelweit offen. Ich mache sie zu und schaue nach Markus. Ich rufe nach ihm, doch da er meist keine Antwort gibt, denke ich mir nicht viel dabei und schaue im Wohnzimmer nach. Markus ist ein sehr stilles Kind und es ist nur natürlich, daß ich nichts von ihm höre. Ich schaue im hinteren Zimmer nach - da ist er auch nicht. Da kommt mir die offene Haustür in den Sinn. Ich gehe die Treppe hinunter und schaue im Garten nach - ich gehe weiter um das Haus herum - da seh' ich ihn, auf allen Vieren; denn er ist barfuß und er hat so empfindliche Füße, daß er auf dem Teer nicht aufrecht gehen kann. Ganz vorsichtig krachselt er über den Teer zu meinem Gewürzgärtlein hinter den Brunnen. Aus der Brunnenröhre tröpfelt ein kleines Rinnsal. Markus hält die Hand darunter und neigt den Kopf, bis er das Wässerchen vor seinen Augen hat. Oft hält er es da stundenlang aus. Er nimmt einen Stein oder ein Spielzeug und hält es unter das Bächlein und hört sich die verschiedenen Töne an. Immer wieder holt er sich etwas, geht um den Brunnen herum, streckt sein Ärmchen über den Brunnen bis zum Wässerchen hin, geht wieder zurück zum Brunnenrohr und macht keinen Wank, wenn ich nach ihm rufe! Wenn aber ein Auto vorbeifährt, schaut er ihm nach und wenn die Nachbarin nach ihm ruft, hebt er den Kopf und winkt ihr.

Wotsch düschele?

Sein allerliebstes Element: Wasser!
Ob drinnen oder draussen

 

 

Abends wenn es ins Bett geht und Markus sich abziehen sollte, gibt es zuerst Protest. "Abzieh!" "Eh!" Markus stampft mit dem Fuß auf den Boden. Nochmals "Abzieh!" Ich knöpfe seine Hose auf und widerwillig streift Markus die Hose hinunter, dann strampelt er mit den Füssen bis die Hosen weg sind. Er steht da und sieht mich an. "Abzieh!" Er fasst das T-Shirt unten und zieht es über seinen Kopf hinweg und murmelt weiter seine Protestlaute. "Und die Socken!" Er fasst einen Socken an den Zehenspitzen, schaut mich wehleidig an, ob ich ihm nicht doch helfe und vollendet dann sein Werk. Morgens allerdings, wenn wir unter der Dusche stehen und Markus ins Badezimmer trippelt, den Duschvorhang vorsichtig zu Seite zieht und uns fragend ansieht und wir dann fragen: "Wotsch au cho düschele?" Dann geht alles sehr schnell. Pyjamahose ist im Nu weg und das Oberteil wird schnell über den Kopf gezogen und schon steigt er in die Dusche, streckt sein Händchen nach dem warmen Naß aus und räkelt sich wohlig unter dem feinen Strahl.

"Lita! - Lita!"

Fühlt sich wohl in der Spielgruppe:
Selbst auf die Reise ging Markus mit.

 

Kaum nehme ich das Znünitäschli von der Garderobe und gehe in die Küche, um es zu füllen, kommt Markus zu mir, schaut mir zu, wie ich die Flasche mit Traubensaft fülle und diese mit dem Becher ins Znünitäschli packe, so schreit Markus voller Freude "Lita! - Lita!" und springt zur Türe. Er setzt sich hin und wartet, bis ich ihm die Schuhe anziehe. Kaum hat er die Schuhe und die Jacke an, stürmt er zur Haustür. Ich hänge ihm das Znünitäschli um den Hals und gehe mit ihm die Treppe hinunter. Wir warten bis das weiße Auto kommt und Markus springt in seiner tänzelnden kleinkindlichen Art zum Auto hin. Voller Freude steigt er ins Auto ein und setzt sich bequem hin. Er kann es kaum erwarten, bis das Auto losfährt und ihn in die Spielgruppe zu "Rita" bringt. Voller Stolz winkt er mir zum Abschied und konzentriert sich sofort wieder auf die Fahrt zu Rita.

Bienchen, summ herum!

In den Blüten des Mohn tummeln sich die Bienen und das emsige Treiben ist herrlich anzuschauen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Da wir in einem Bauernhaus wohnen, kommt es recht häufig vor, daß eine Fliege im Haus zu Besuch ist. Markus steuert geradewegs auf die Fliege los. Setzt sie sich auf den Tisch, geht er vorsichtig mit seinem kleinen Zeigefinger auf sie los und versucht sie zu erwischen. Er macht das so langsam, daß sie nicht gleich davonfliegt und er sie noch berühren kann. Sie fliegt ans Fenster und Markus holt den "Flügetätsch" in der Küche und versucht, so die Fliege zu erwischen. Bienen bewegen sich jedoch genau so wie Fliegen. Und wenn im Garten der Thymian blüht, tummeln sich haufenweise Bienen am Büschchen. Markus kauert nieder und schaut fasziniert dem emsigen Treiben der Bienen zu und streckt ebenso wie bei den Fliegen seinen Zeigefinger gegen die Bienen, und auch sie fliegen beim vorsichtigen Berühren weg. Noch schöner sind die grossen Mohnblumen im Garten; denn wenn sich die Bienen in das Gewölbe der Blütenblätter begeben, tönt das Gesumme besonders schön. Noch lauter summen sie, wenn Markus den Zeigefinger hineinstreckt und die Bienen bei ihrer Arbeit stört. Wie wild summen sie dann, denn sie sind ja im Blütenkörbchen gefangen. Doch nicht immer lassen die Bienen das kleine Händchen von Markus in Ruhe und plötzlich schreit Markus wehleidig und streckt mir sein Händchen hin. Ich salbe den Stich ein, der nicht einmal gut zu finden ist, denn die Biene hat ihn nur gestreift und nicht voll erwischt. Doch kaum ist der Schmerz vergangen, steht Markus wieder vor den Mohnblumen und schaut dem Gesumme zu und am nächsten Tag kommt auch vorsichtig der Zeigefinger wieder zum Vorschein und streichelt wieder die Bienen.

Lärm und Töne

So geniesserisch wie hier am Badetuch kann Markus auch am Lautsprecher lauschen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Markus ist sehr lärmempfindlich. Er kann sich nie an unsere Espressomaschine gewöhnen. Sobald sie anfängt Kaffee zu mahlen, hält er sich die Ohren zu und ist den Tränen nah. Ganz schlimm ist es, wenn Papi die Bohrmaschine in die Hand nimmt, da springt Markus weit weg. Und es können alle Türen zu sein, wenn Papi ein Loch mit der Schlagbohrmaschine in die Wand bohrt, fängt Markus an zu weinen. Etwas ganz anderes ist es, wenn Markus selbst Lärm macht. Er kann mit voller Wucht auf das Xylophon schlagen oder mit derselben Intensität das Tambourin bearbeiten. Nichts da von Ohren zuhalten, er geniesst die Lautstärke. Sein liebstes Instrument ist jedoch die Hammondorgel. Sehr bald lernt er, wo der Knopf zum Einschalten ist, wo die Lautstärke zu verstellen ist und bei welchen Knöpfchen die verschiedenen Rhythmen zu hören sind. Oft setzt sich Markus an die Orgel, spielt anfangs recht gedämpft und greift auch in die Tasten, doch plötzlich dreht er auf volle Lautstärke und kriecht unter die Orgel und hält sein Ohr möglichst nahe an den Lautsprecher. Er geht ins andere Zimmer, holt sich ein Spielzeug und hört von weitem dem Gedröhne zu. Selbst im oberen Stock ist es noch so laut, dass ich kaum mehr in Ruhe arbeiten kann. Ich gehe hinunter und stelle die Orgel ab. Kaum bin ich wieder oben, wird die Orgel schon wieder eingeschaltet. Ich gehe wieder hinunter und sage zu Markus: "Abstelle!" Nichts rührt sich, Markus tut nichts dergleichen. "Markus, abstelle!" Mein Ton wird etwas bestimmter. Markus dreht den Kopf, schaut mich zweifelnd an und ich sage nochmals: "Ja, ja abstellen!" Unwirsch nickt er mit dem Kopf, dreht aber brav den Einschalteknopf und macht den Deckel zu.

Freitag geht's in die Stadt!

Alles wird bestaunt: Ob Bus oder Bahn,
immer wieder gibt es Neues zu entdecken.

 

 

 

 

 

Freitag gibt es ein frühes Mittagessen, denn Viertel vor elf Uhr fährt das Postauto! In die Tasche wandert ein Büchlein für Roland und der grüne und schwarze Zauberstab. Wir steigen ins Auto und fahren die zwei Kilometer zur Bushaltestelle. Voller Freude steuert Markus zum gelben Postauto. Er klettert auf den Sitz und wartet erwartungsvoll der Dinge, die da kommen. Ein Mann steigt ins Postauto und Markus plaudert freundlich auf ihn ein. Ganz verständnislos schaut der Mann Markus an. Sein Geplauder tönt zwar, als ob er eine ganze Geschichte erzählen will, doch man versteht nichts. Schnell nimmt der Mann ein Buch hervor und schaut verwirrt und verständnislos über die spontane Ansprache ins Buch. Markus schaut ihn weiter offen an, da seine Worte aber keine Reaktion hervorruft, schaut er wieder zum Fenster hinaus und freut sich auf die lange, abwechlungsreiche Fahrt nach Zürich. In Zürich steigen wir aus und spazieren entlang der schwerbefahrenen Strasse. Bei jedem Lastwagen dreht sich Markus um und staunt den lärmenden Ungetümen nach. Wir gehen zum Masseur. Ich ziehe ihn ab und Markus legt sich wohlig auf den Schragen und geniesst seine Massage. Wird er unruhig, so gebe ich ihm seinen Zauberstab. Dieser hält er direkt vor seine Augen, dreht ihn langsam und schaut den funkelnden Sternchen und grünen Kügelchen nach.

Sonntag ist Papitag!

Wenn Papi einmal da ist, wird er auch voll in Anspruch genommen.

 

 

 

 

Plötzlich geht die Türfalle herunter, zwei - dreimal bis Markus die Tür öffnen kann. Dann plötzlich geht es und die Tür wird sperrangelweit aufgestossen. Er krachselt aufs Bett und im Eiltempo kriecht er zum Kopfkissen zwischen Mami und Papi hinauf. Er kriecht unter die Decke und schaut zu Papi und sagt: "Guete Tag!" "Guete Tag, Markus, häsch guet pfüselet?" "Jo!" Zufrieden lächelt er Papi an und kuschelt sich näher zu ihm. Er beginnt drauflos zu schwatzen, für uns ganz unverständlich, aber der Tonfall ist genau richtig und es tönt, als wolle er uns eine ganze Geschichte erzählen. Papi fängt an mit Markus zu spielen und fragt zwischendurch: "Seisch im Mami au guete Tag?" Markus dreht sich kurz um, sagt: "Hoi!" und dreht sich ebenso schnell wieder zurück und spielt weiter mit Papi. Wenn Papi einmal da ist, ist Mami uninteressant! An einem andern Sonntagmorgen bleibt es lange verdächtig ruhig. Papi geht ins Kinderzimmer und schaut nach. Niemand da. Er geht in den untern Stock, sieht niemand. Doch die Tür zum Fernsehzimmer ist zu. Beide Kinder sitzen eng nebeneinander im Lehnstuhl und sehen sich Trickfilme an. Lachend kommt Papi wieder ins Schlafzimmer und erzählt mir die Geschichte. Und der grosse Bruder hat ihm schnell gesagt: "Markus hat den Fernseher eingeschaltet!"

 

Leben mit Markus

Mit den verschiedenen Episoden aus dem Leben von Markus wollte ich zeigen, wie anders er die Welt erlebt hat und wie er unsere Ansicht des Lebens verändert hat. Als Markus zwei Jahre alt war, erfuhr ich erst, dass er geistig behindert ist. Ich hatte damals grosse Mühe, dies zu akzeptieren. Er tat mir vorallem leid und noch mehr machte ich mir Sorgen wie Roland, sein älterer Bruder, dies verkraften würde. Doch sobald ich mich damit abgefunden hatte und Markus so nahm wie vorher und in ihm einfach mein liebes Kind sah, bei dem die Entwicklung nun etwas langsamer vorwärts ging und ich meine Ansprüche hinunterschraubte, da auf einmal kamen die Fortschritte und ich freute mich über jeden kleinsten Fortschritt. Ich begann die Welt in den Augen von Markus zu sehen. Ich freute mich nun auch über kleine Dinge, über das Gesumme der Bienen und ihr geschäftiges Treiben, über die Blätter, die sich im Wind bewegten. Selbstverständlich richtete ich mein Leben auf Markus aus. Ich habe mich nicht zurückgezogen, sondern ergriff die Flucht nach vorn. Ich tat alles, um ihn möglichst gut zu integrieren. Ich nahm ihn überall mit. Ich sagte jedem, dass er geistig behindert sei. Und ich fuhr gut damit. Überall wurde er akzeptiert und jeder, der ihn näher kannte, hatte ihn gern. Markus hatte so ein offenes Wesen; er ging auf die Leute zu und breitete jemand die Arme aus, so steuerte er auf sie los und genoss es, wenn man ihn liebkoste. Jeden Tag kam er ein bis vier Mal zu mir, ich musste ihn in die Arme nehmen und ihn liebkosen. Er hielt mich ganz fest mit seinen dünnen Ärmchen und genoss, wenn ich ihn küsste oder mit ihm spielte. Danach war er wieder befriedigt und ging weiterspielen.

Die Schwierigkeit war, dass andere Kinder eifersüchtig wurden dadurch, und sein Bruder versuchte die gleiche Aufmerksamkeit zu erlangen, indem er Markus imitierte. Nur hatte es da überhaupt nicht die gleiche Wirkung und vorallem im Kindergarten war die Imitation so gut, dass er sich völlig absonderte und Mühe hatte, mit den andern Kindern zu spielen und auch von der Kindergärtnerin nicht als das sehr intelligente Kind wahrgenommen wurde, das er eigentlich war. Zu Hause war nicht viel von diesem Konflikt zu spüren, ausser dass Roland nicht gerne in den Kindergarten ging.

Doch da er sowieso ziemlich alleine war und in der Nachbarschaft keine Kinder in seinem Alter waren, dachte ich immer, das wird sich schon geben und wahrscheinlich ist es nur der Weg, den er alleine gehen muss.

Bis es zum Schulreifetest kam, und er total versagte. Da erst erschrak ich und realisierte, welche Rolle Roland übernommen hatte. Ich liess ihn vom Schulpsychologen testen und dabei stellte sich heraus, dass er absolut schulreif war, aber als der Psychologe im Kindergarten einen Besuch abstattete, sah er auch wie sich Roland völlig abkapselte und nur für sich spielte und auf die einfachsten Fragen gar keine Antwort gab.

Da machte ich mir natürlich auch Vorwürfe: Habe ich mich zu fest auf Markus konzentriert? Habe ich zuwenig mit Roland gemacht?

Roland hat sicher die gleiche Aufmerksamkeit von uns Eltern bekommen wie Markus. Das einzige, das ich zuwenig beachtet habe ist, dass Roland nicht einfach keine Probleme hat mit der veränderten Situation. Ich habe immer angenommen, Roland ist so intelligent und bei ihm kam alles so einfach und die Entwicklung ist so normal, dass dies einfach so weitergehen müsse und er nicht auch eine Spezialbehandlung braucht. Doch dem war nicht so, denn er ist auch in einer speziellen Situation als Bruder eines geistig Behinderten und das Empfinden ganz auf ihn ausgerichtet ist, so dass er Mühe hat mit den sogenannt normalen Kindern zu spielen. Schlimm für mich war, dass er von Pädagogen zum Teil so falsch eingeschätzt wurde und ich das Gefühl hatte, dass man mir nicht glaubt und sie ihn als Pädagogen besser einschätzen können. Das Schlimme daran ist, dass es auf das Kind zurückfällt und an Stelle dem Kind eine sichere Führung auf den richtigen Weg zurück zu geben, immer wieder gewisse Zweifel versprüht werden und das Kind noch mehr verunsichern.

 

 

Was war mit Markus los?

Markus war ein Williams-Beuren-Syndrom-Kind.

Der Herzspezialist vermutete dies als erster, denn zu diesem Syndrom gehört in erster Linie die Verengung der Aorta und oft eine Nierenschwäche. Weitere Merkmale des Syndroms sind Schielen, eine sternförmige Zeichnung der Iris, volle Unterlippen, die später oftmals herunterhängt, volle Backen und tiefangesetzte Ohren. Das schwerwiegenste ist wohl die verzögerte Entwicklung.

Nach Anordnung einer Therapie durch die Frühberaterin zeichneten sich allmählich Fortschritte ab, die mich hoffen liessen, dass er doch recht selbständig werden könnte. Wenn nun die Entwicklung im geistigen Bereich mit Hilfe der Früherzieherin schöne Fortschritte machte, war sie im Herzbereich schlecht.

Beim Untersuch beim Herzspezialisten im Herbst 1991 sah er mit Hilfe des Ultraschalls, dass der Druckausgleich schlecht ist und empfahl eine Untersuchung mit einem Herzkatheter, der eine genaue Abklärung der Verengung ergeben würde.

Im Januar 1992 brachte ich Markus zu diesem Untersuch in das Spital. Am 14. Januar leiteten sie die Narkose zu diesem Untersuch ein. Doch da spielte das Herz nicht mehr mit. Das Herz schlug immer schwächer und es kam zum Herzstillstand. Alles Bemühen um eine Reaktivierung blieb erfolglos.

Beim Nachuntersuch stellte sich heraus, dass die Verengung der Aorta recht lange war und die Aortenwände sehr verdickt waren, so dass ein Aufdrücken mit Hilfe eines Ballons nicht machbar gewesen wäre. Das war die Möglichkeit, auf die ich so gehofft hatte, denn damit hätte man eine Operation umgehen können. Was noch weiter bei dieser Untersuchung herauskam, war, dass die Koronargefässe auch verengt waren. Dies ist eher ungewöhnlich bereits in diesem Alter, so dass das Herz einer rechten Überbeanspruchung standhalten musste. Damit lässt sich auch erklären, dass die Mehrbeanspruchung einer Narkose schon zuviel war für das Herz. So unfassbar der Tod von Markus im Moment war, so dankbar muss man im Nachhinein dafür sein. So ist ihm doch eine Operation, die nicht allzu erfolgversprechend gewesen wäre, erspart geblieben. Er konnte so auch sein kurzes Leben geniessen, ohne dass wir immer ängstlich waren, um ja nicht sein Herz zu fest zu beanspruchen. Alle anderen Organe waren bei Markus gesund.

Mein Leben war recht ausgefüllt. Markus brauchte zwar mittlerweile keine spezielle Pflege mehr, seit er 4 1/2 Jahre alt war, brauchte er auch keine Windeln mehr. Problematisch war das Essen, er ass nichts Festes und er wollte auch nicht selber essen. Ich musste alles pürieren. Wenigstens ass er alles seit dem Therapieaufenthalt im Kinderheim und nicht nur wie bis anhin die fertigen Kinderbreie. Auch die Woche war natürlich recht eingeteilt.

Montag morgen hatte Markus Therapie bei der Frühberaterin. Sie kam in unser Haus, was sehr angenehm war. Doch musste ich immer schauen, dass Roland beschäftigt war, wenn einmal Kindergarten oder später die Schule ausfiel. Und mit jedem neuen Stundenplan musste ein neuer Termin gefunden werden. Denn Roland verstand es ausgezeichnet, dazwischen zu funken und Markus abzulenken, denn es war für Markus eine rechte Anstrengung, sich zu konzentrieren.

Dienstag morgen ging ich mit Markus ins Muki (Mutter und Kindturnen), wo er praktisch alles mitmachte. Für mich war dies recht anstrengend, musste ich ihm doch alles zeigen, erklären half nicht viel. Mit der Zeit beobachtete er jedoch die andern Kinder ziemlich genau und machte alles nach.

Dienstag mittag ging Markus in die Spielgruppe.

Mittwochs waren beide Kinder bei einer Bekannten, was vom Entlastungsdienst für Familien mit Behinderten organisiert war. Diesen Tag genoss ich, er war zwar auch anstrengend, da ich versuchte alles in diesen Tag hineinzupacken, wozu mir sonst die Zeit fehlte, doch wenigstens war für einmal die Verantwortung für beide Kinder nicht bei mir.

Donnerstag morgen ging's wieder in die Spielgruppe und Freitags ging's über Mittag nach Zürich. Auch dies war mit einiger Organisation verbunden, musste ich doch vorher Markus noch zu Essen geben, denn Brei kann man nicht gut unterwegs essen, wie zum Beispiel ein Sandwich, das ich meistens auch noch für Roland und mich bereitstellen musste. Samstag und Sonntag waren die ruhigen Tage für mich; denn Papi war ja so heiss begehrt, so dass ich auch einmal in Ruhe etwas fertig machen konnte, ohne immer über die Schulter gucken zu müssen.

 

 

Ein Jahr danach

Nun ist bereits ein Jahr vergangen nach dem Tod von Markus. Und die ganz grosse Leere kommt eigentlich erst jetzt richtig. Die ganze Fröhlichkeit, die Markus im Übermass versprüht hat, die fehlt. Der Alltag hat uns eingeholt und unser Leben ist so normal geworden. All das was Markus uns mitgegeben hat und unser Leben speziell gemacht hat, bröckelt langsam dahin. Wir haben einiges an Lebensqualität verloren. Nun zeigt uns niemand mehr, wie speziell eine einfache Blume ist oder wie interessant Bienchen sein können und wie man stundenlang fliessendem Wasser zuschauen kann. Ein Tag wie ein anderer geht dahin, man wartet vielleicht auf ein Wochenende oder auf Ferien. Doch mit Markus war jeder Tag etwas Spezielles. Jeden Morgen freute er sich so auf den bevorstehenden Tag, dass man ganz einfach davon angesteckt wurde und auch jeden Tag als etwas Besonderes betrachtete.

Sicher war das Leben von Markus sehr kurz, aber er lebte so intensiv und hat das Leben dermassen genossen, dass ich mir nicht sicher bin, ob Leute die viel länger leben, auch dermassen viele Erfahrungen gemacht haben wie Markus. Er hat uns vorgelebt, wie man jeden neuen Tag als Geschenk, das man voll auskosten kann, betrachten kann.

 

 

Neuere Erkenntnisse

 

Medizinische Erkenntnisse

Neuere Erkenntnisse Seit 1993 weiss man, dass das Williams Beuren Syndrom auf dem fehlenden Elastingen auf Chromosom Nr. 7 (7q11.23) beruht. Elastin ist das elastische Gerüsteiweiss der Sehnen- und Blutgefässe, chemisch dem Kollagen verwandt. Man vermutet, dass die benachbarten Gene beim Williams Syndrom ebenfalls einen Defekt aufweisen könnten, denn dasselbe fehlende Elastingen wurde auch beim Herzfehler Supravalvuläre Aortenstenose gefunden. Dies heisst aber nicht zwangsläufig auch Williams Syndrom. Dieser Herzfehler ist auch bei den meisten Williams Syndrom Kindern zu finden, jedoch verbunden mit den typischen Merkmalen des Syndroms.

Da es sich also um einen genetischen Defekt handelt, ist auch eine mögliche Untersuchung im pränatalen Zustand möglich. Da man aber mit einem Vorkommen von 1:20’000 rechnet, wird diese Untersuchung wahrscheinlich nicht routinemässig ausgeführt.

Das Fehlen des Elastingens wird auch dafür verantwortlich gemacht, dass oft Deformationen der Nieren auftauchen, es wird für das Schielen und das öftere Auftreten von Leistenbrüchen verantwortlich gemacht. Nicht erklären kann man mit diesem Fehlen des Gens die geistige Behinderung.

Die Chromosomen Region des Elastin-Genes des Williams Syndroms

Verhaltensweisen

Aus verschiedenen Unterlagen hauptsächlich von England und Amerika, weisen die Kinder mit Williams Syndrom ganz typische Verhaltensweisen auf. So sind diese Kinder sehr sozial, manchmal sogar überfreundlich und gehen zu allen Leuten hin, was manchmal auch zum Problem werden kann.

Erstaunlicherweise haben Williams Syndrom Kinder meist eine erstaunliche Sprachfertigkeit und einen grossen Wortschatz. Die meisten lernen lesen und schreiben und lesen auch ganze Bücher. Im Gegensatz dazu haben sie grosse Mühe zu rechnen. Jedoch ein sehr gutes Gedächtnis, das man sich in der Schule sehr zu nutzen machen sollte. Bei kleineren Schulklassen ist es möglich, diese Kinder normal einzuschulen. Sie brauchen jedoch zusätzliche Hilfe.

Im Umgang mit ihnen ist es wichtig, einige Besonderheiten über das Syndrom zu wissen und sich dementsprechend zu verhalten. Die meisten sind besonders lärmempfindlich und kommen unter Stress bei ungewöhnlichen Tönen, wie zum Beispiel der Ton eines Staubsaugers, eines Bohrers, eines Ventilators oder auch das schrille Klingeln einer Schulglocke. Um diesem Stress vorzubeugen, kann man die Kinder vorwarnen oder sie speziell mit diesen Tönen vertraut machen, in dem sie mit einem gedämpften Ton zu diesen Geräuschen hingeführt werden oder sie kurz vor dem Geräusch darauf aufmerksam macht, dass es nun kommen wird.

Ebenso schnell werden sie aus dem Konzept gebracht, wenn etwas nicht nach Routine verläuft. Also keine schnellen Änderungen zu einem Verlauf vornehmen.

Obwohl die betroffenen Kinder sehr sozial gesinnt sind, fällt es ihnen schwer Freundschaften aufzubauen. Um gute Freundschaften aufbauen zu können, brauchen sie anfängliche Hilfe durch ihre Betreuungspersonen.

Die Lernfähgkeit der Kinder ist sehr unterschiedlich. Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass das Sprachvermögen eines sechsjährigen mit Williams Syndrom dem eines normalen sechsjährigen entspricht, seine mathematischen Fähigkeiten jedoch nur die eines dreijährigen erreicht. Deshalb ist es auch schwierig einen IQ zu bestimmen. Zudem erweist sich auch ein IQ-Test oft als schwierig. Nützlich sind Stichworte für Kinder, ohne die sie oft aufgeschmissen sind. Der typische IQ liegt zwischen 50 und 70, was einer leichten bis schwereren Behinderung entspricht.

Eine ausgesprochene Stärke ist ihre Musikalität. In Amerika bestehen sogar Musikgruppen mit Williams Syndrom Personen.

Zudem ist in Amerika die Williams Syndrome Association sehr aktiv und organisiert jährliche Treffen. Sie unterstützt Forschungsprojekte. Sie gibt auch laufend Informationen über Internet heraus. In Deutschland existiert ebenfalls eine Vereinigung: Bundesverband Williams Beuren Syndrom, Fahrenkrug. Die Schweiz und Österreich ist ebenfalls dort angeschlossen. Auch sie organisieren bundesweite Treffen. Die Mitgliederstärke liegt über 300.

 

 

Mehr über Williams-Beuren-Syndrom

Der deutsche Bundesverband Williams-Beuren-Syndrom hat eine Homepage, die umfassend Auskunft gibt über das Syndrom

http://www.w-b-s.de/

Im weiteren sind die Homepages Kanadas und der U.S.A sehr umfangreich.

International contact adresses:

http://www.wsf.org/orgs2.htm

http://williams-syndrome.org

 

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